Das Versagen, mit den Konsequenzen des verheerenden Erdbebens von 2010 umzugehen

ÖFFENTLICHE STELLUNGNAHME

AI Index: AMR 36/002/2014 (inoffizielle deutsche Übersetzung, englisches Original hier)

 

Vier Jahre nach dem verheerenden Erdbeben, das etwa 200.000 Menschen das Leben kostete und um die 2,3 Millionen obdachlos zurück ließ, wurde laut Amnesty International nur wenig getan um den Respekt, den Schutz, und die Erfüllung des Rechts auf adäquaten Wohnraum in Haiti sicherzustellen.

Mehr als 170.000 Personen leben Schätzungen zu folge noch immer in über 300 Camps für Vertriebene, in der Mehrzahl der Fälle unter entsetzlichen Bedingungen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung wie Wasser, Toiletten und Abfallentsorgung. Während der Schlechte Zustand der Sanitärversorgung sie dem Risiko von Cholera und anderen Krankheiten aussetzt, macht der Mangel an sicheren Unterkünften sie verletzlich gegenüber Fluten und anderen witterungsbedingten Risiken, besonders währen der Hurrikan Saison.

Auch wenn die Anzahl intern Vertriebener (internally-displaced persons, IDPs) von initial geschätzten 1,5 Millionen im Juli 2010 signifikant gesunken ist, wurden keine langfristigen Wohnraumlösungen für die Mehrheit der Menschen gefunden, die aus Camps umgesiedelt wurden.

Der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge, wurden über 113.000 Haushalte intern Vertriebener in vorübergehende Unterkünfte umgesiedelt und über 55.000 wurden durch Mietsubventionsprogramme umgesiedelt. Familien, die von diesen Programmen profitieren, erhalten für die Dauer eines Jahres etwa 500 USD Unterstützung um eine Unterbringung ihrer Wahl anzumieten und eine zusätzliche finanzielle Unterstützung von 125 USD.

„Während diese Maßnahmen zu einer drastischen Reduzierung der Anzahl an Camps intern Vertriebener geführt haben, so haben sie nicht zu einer Lösung der Wohnraumkrise beigetragen, die das Erdbeben noch verschlimmert hatte. Es ist, als kehre man das Problem unter den Teppich“, so Javier Zúñiga, Sonderberater bei Amnesty International.

Eine Evaluation der Mietsubventionsprogramme, die von Gebern im Januar 2013 in Auftrag gegeben wurde, ergab das 60% der Unterstützten aussagten, dass es ihnen nicht möglich sein werde, dieselbe Qualität an Wohnraum aufrecht zu erhalten wenn die Subventionsprogramme auslaufen. Die 75% deren Verträge geendet hatten und die umgezogen waren, lebten in der Regel unter schlechteren Bedingungen als während der Laufzeit des Subventionsprogramms.

Gewaltsame Räumungen sind ein weiterer Faktor, der zu einer Reduzierung der Nummer intern Vertriebener führt, die in Camps leben. Statistiken von IOM von September 2013 zufolge, waren gewaltsame Räumungen der Grund für 11% aller Umzüge aus den Camps und 46% derer, die weiterhin in Camps leben, sind von Räumungen bedroht.

 

Im April 2013 hat Amnesty International den Bericht „Nowhere to go. Forced evictions in Haiti’s Displacement Camps“ veröffentlicht, der Zwangsräumungen intern Vertriebener von öffentlichem und privatem Land dokumentiert.

Auch wenn die haitianische Regierung mit zwei öffentlichen Stellungnahmen auf den Bericht reagiert hat, in denen sie sich von der Praxis distanzierte und ausführliche Untersuchen von Vorwürfen gewaltsamer Zwangsräumungen versprochen hat, ist bisher niemand zur Rechenschaft gezogen worden, Opfern wurde keine Wiedergutmachung für Verletzungen ihrer Rechte zuteil und es gibt keine Hinweise, dass solche Untersuchungen gegenwärtig durchgeführt werden. Im Gegenteil, weitere Zwangsräumungen haben stattgefunden nachdem die Stellungnahmen veröffentlicht wurden.

Amnesty International ist besonders um die Sicherheit derjenigen Menschen besorgt, die in Canaan leben, ein Landstrich einige Kilometer von den nördlichen Randbezirken von Port-au-Prince entfernt, das von der damaligen Regierung im März 2010 zur „öffentlichen Nutzung“ (utilité publique) ausgeschrieben wurde. Zehntausende Menschen, die ihre Unterkünfte während des Erdbebens verloren hatten, einschließlich etlicher, die gewaltsam aus Camps in Port-au-Prince vertrieben wurden, haben nach Canaan umgesiedelt, in der Hoffnung dort von Zwangsräumungen geschützt zu sein. Viele haben begonnen dort feste Behausungen zu bauen. Der Status des Landes bleibt jedoch unklar und keine der Familien haben Besitzrechte, die sie vor Zwangsräumungen schützen würden. Es besteht nach wie vor Unklarheit darüber, welcher exakte Teil des Landes zur „öffentlichen Nutzung“ ausgeschrieben wurde sowie über die Finalisierung des Prozesses der Enteignung. Folglich sind tausende Menschen die dort leben von Zwangsräumungen bedroht, sowie Einschüchterungen und Belästigen durch Personen ausgesetzt, die Anspruch auf das Land erheben.

„Canaan ist ein Pulverfass. Das Scheitern der Behörden die Besitzrechte zu klären könnte zu zahllosen Konflikten führen und diejenigen, die dort wohnen schweren Menschenrechtsverletzungen aussetzen“, warte Zúñiga.

Die letzten Zwangsräumungen in Canaan fanden zwischen dem 7. Und 10. Dezember 2013 in einem Sektor statt, der als Titanyen bekannt ist, als über 200 Familien obdachlos gemacht wurden. Viele von ihnen waren intern Vertriebene des Erdbebens, die nach Titanyen umgesiedelt hatten, nachdem sie im Mai 2012 gewaltsam aus Camp Mozayik in Delmas, Port-au-Prince vertrieben wurden. Den Anwohnern zufolge wurden sie über die Räumungen nicht im Vorfeld in Kenntnis gesetzt und hatten daher keine Gelegenheit dagegen anzugehen. Es wurde ihnen keine Zeit gelassen ihre Besitztümer mitzunehmen und über ein Dutzend Personen wurden gewaltsam angegriffen, einschließlich einer Frau, die im vierten Monat schwanger war. Über 3.000 Familien, die in Bezirken von Canaan leben, die als Village des Pêcheurs und Grâce de Dieu bekannt sind, sind Einschätzungen zufolge einem unmittelbaren Risiko ausgesetzt, Opfer von Zwangsräumungen zu werden.

Am 23. Oktober 2013 hat der Premierminister die Verabschiedung der ersten „Nationalen Wohn- und Lebensraum Planes“ verkündet. Obwohl der Premierminister den Plan als „Referenzrahmen für öffentliche Institutionen, regionale Behörden, zivilgesellschaftliche Organisationen und operationelle wie finanzielle Partner“ betitelt hat, wurde das Dokument in seiner Gänze bisher nicht ausgeteilt und Zivilgesellschaftorganisationen haben Amnesty International berichtet, dass ihnen der Inhalt nicht bekannt ist. Vergangene Entwürfe, die Amnesty International vorlagen, versäumten es, einen konkreten Plan aufzuzeigen, wie diejenigen die in Armut leben Zugang zu angemessenem und erschwinglichem Wohnraum bekommen sollen und er enthielt keine Maßnahmen, wie Zwangsräumungen entgegengewirkt werden soll.

„Die haitianische Regierung kann es sich nicht leisten diese Chance verstreichen zu lassen. Die Verabschiedung einer menschenrechtsbasierten nationalen Strategie für Wohnraum und ihre effektive Implementierung sind der einzige Weg wie die Regierung wirklichen Einsatz für den Respekt der Menschenwürde zeigen kann sowie dafür, den Menschen das zu geben, was die haitianische Verfassung ihnen garantiert: angemessenen Wohnraum“, sagte Zúñiga.

 

Vier Jahre nach dem Erdbeben hält Amnesty International die haitianischen Behörden dazu an, das Recht auf Wohnraum zu einer Priorität und Realität im Land zu machen, insbesondere indem sie garantieren dass:

  • Pläne verabschiedet werden, Binnenflüchtlinge aus den Camps umzusiedeln, basierend auf nachhaltigen Lösungen die sicherstellen, dass alle alternative Unterbringung dem Anspruch an Angemessenheit von Wohnraum gemäß internationalem Gesetz entspricht.
  • Die nationale Wohn- und Lebensraum Strategie auf eine Weise aufgebaut ist, die relevanten internationalen Menschenrechtsstandards entspricht und dass Zugang angemessenem Wohnraum für alle durchgesetzt wird, die ihn benötigen, besonders für die verletzlichsten und marginalisiertesten Personengruppen, wie z.B. dienigen die in Armut leben.
  • Maßnahmen verabschiedet werden, die den Status des Landes in Canaan klären und den Anwohnern Besitzrechte zukommen lassen.
  • Ein Moratorium auf alle Massenräumungen umgesetzt wird bis angemessene Garantien umgesetzt wurden, die sicherstellen, dass alle Räumungen konform sind mit internationalen Menschenrechtsstandards.
  • Gesetze verabschiedet und durchgesetzt werden, die gewaltsame Zwangsräumungen verbieten und die Garantien festschreiben die berücksichtigt werden müssen bevor Räumungen stattfinden, gemäß internationalen Menschenrechtsstandards einschließlich der UN Basic Principles and Guidelines on Development-Based Evictions and Displacement.
  • Effektive Mechanismen etabliert werden, die gewaltsame Räumungen durch staatliche und nicht-staatliche Akteure verhindern. Dies beinhaltet die Revision existierender Prozeduren und eine Verbesserung der Koordination zwischen relevanten Akteuren.
  • Formale Anweisungen an Bürgermeister, Polizeistationen und Munizipalgerichte gegeben werden, so dass diese sich nicht an gewaltsamen Räumungen beteiligen oder diese begünstigen. Außerdem müssen klare Mechanismen implementiert werden, die die Einhaltung dieser Anweisungen überwachen.
  • Fälle gewaltsamer Räumungen und Androhungen gewaltsamer Räumungen (einschließlich Bedrohungen von IDPs und Menschenrechtsverteidigern, die versuchen Zwangsräumungen zu verhindern) effektiv untersucht werden und Täter gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden.
  • Opfern von Zwangsräumungen effektive Rechtsmittel zur Verfügung stehen.

Blogpost auf Live Wire: The forgotten victims of Haiti’s earthquake