Länderkurzbericht Haiti Januar 2013

Noch immer beeinflussen die Folgen des Erdbebens von 2010 die Menschenrechtslage in Haiti.

Das Erdbeben hatte unmittelbare Auswirkungen auf die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der haitianischen Bevölkerung, insbesondere in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Bildung und Wohnraum.

Bereits vor dem Erdbeben bestehende Probleme, wie Mängel im Justizsystem und geschlechterbasierte Gewalt, wurden durch die Schwächung staatlicher Institutionen im Zuge des Erdbebens noch verschlimmert.

Die Auswirkungen des Erdbebens auf die öffentlichen Institutionen und die nur zögerliche und unvollständige Auszahlung internationaler Gelder verschlechtern chronische Schwächen in den Regierungsbemühungen, Menschenrechte zu fördern und zu schützen.

BINNENFLÜCHTLINGE

Das Erdbeben vom 12. Januar 2010 hinterließ über 200.000 Tote und 2,3 Millionen Obdachlose.

Heute wohnen noch immer geschätzte 350.000 Menschen in Zeltlagern, in größtenteils behelfsmäßigen Unterkünften, in denen eine Grundversorgung mit fließendem Wasser, Sanitäreinrichtungen und Müllentsorgung nicht gewährleistet ist. Gleichzeitig hat Haiti weniger als die Hälfte der 6,5 Millionen US-Dollar erhalten, die die internationalen Geber versprochen hatten, um das Land beim Wiederaufbau zu unterstützen.

Die ohnehin unzureichende Versorgung mit Medikamenten, Wasser und Nahrungsmitteln wurde durch die Folgen des Erdbebens noch verschlimmert. Sie trug außerdem dazu bei, dass sich eine nach dem Erdbeben ausgebrochene Cholera-Epidemie weiter ausbreitete. Bis zum Jahresende 2011 wurden 529.094 Erkrankungen und 7.018 Todesfälle gemeldet. Die verheerenden Folgen des Hurrikans Sandy taten im Herbst 2012 ihr Übriges, die humanitäre Versorgung erneut zurück zu werfen.

Binnenflüchtlinge sehen sich außerdem der zunehmenden Gefahr von Zwangsräumungen ausgesetzt. Dies gilt besonders dort, wo sich die Camps auf privatem Gelände befinden, bzw. auf Land, dessen Besitzverhältnisse ungeklärt sind. Gemäß der UN Leitlinien zur Binnenflucht (UN Guiding Principles on Internal Displacement) haben Binnenflüchtlinge ein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, einschließlich Unterkunft und Schutz vor willkürlicher Vertreibung. Die haitianischen Behörden setzen dieses Recht nur unzureichend um.

Etwa 60.000 Menschen wurden seit dem Erdbeben zwangsweise aus den Camps vertrieben. 80.000 weitere sind von Zwangsräumungen bedroht.

Die überwiegende Mehrheit der Zwangsräumungen wird durch mutmaßliche Landbesitzer durchgeführt, die von den Binnenflüchtlingen gewaltsam ihren Besitz zurück fordern. Die Behörden sind entweder direkt an den Zwangsräumungen beteiligt oder tolerieren diese. Im Vorfeld der Räumungen fehlt es an Beratungs- und Konsultationsprozessen und den Binnenflüchtlingen werden weder alternative Unterkünfte noch Entschädigung angeboten.

Insofern verletzen die Zwangsräumungen internationale Standards.

Mit der Unterstützung internationaler Geber starteten die nationalen Behörden im August 2011 einen Plan zur Umsiedlung von Personen aus 50 Camps in 16 Gemeinden (“Projekt 16/6”). Durch dieses Projekt erhalten Familien einen Mietzuschuss von 500 US-Dollar über einen Zeitraum von zwölf Monaten und 25 US-Dollar Transportkosten, um sie zu ermutigen, die Camps zugunsten besseren Wohnraums zu verlassen. Die Familien sind allerdings selbst dafür verantwortlich, diesen besseren Wohnraum zu finden und einen Vertrag mit dem Vermieter abzuschließen. Obwohl das Projekt einigen Familien geholfen hat, sind die Zuschüsse zu niedrig, Personen werden nicht dabei unterstützt eine Unterkunft zu finden, und es wird den Familien keine langfristige Unterstützung angeboten.

Im April 2012 veröffentlichten die haitianischen Behörden außerdem den Entwurf einer nationalen Strategie zum Wohnraum. Der Plan setzt Prioritäten bezüglich der Errichtung neuer Häuser. Es fehlen jedoch Vorschläge, wie Menschen, die in Armut leben, Zugang zu angemessenem und bezahlbarem Wohnraum erhalten sollen. Der Plan enthält außerdem keine Verpflichtung zur Verhinderung von Zwangsräumungen.

GEWALT GEGEN FRAUEN UND MÄDCHEN

Sexuelle und geschlechterbasierte Gewalt waren bereits vor dem Erdbeben verbreitet. Die nach dem Erdbeben vorherrschenden prekären Lebensbedingungen in den behelfsmäßigen Camps haben Frauen und Mädchen einem noch größeren Risiko ausgesetzt, Opfer von Gewalt zu werden.

Nach internationalen menschenrechtlichen Standards ist es die Aufgabe der Regierung, Sicherheit und Schutz in den Camps zu gewährleisten. Dies beinhaltet die Prävention von und die Reaktion auf geschlechterbasierte Gewalt. Die Herausforderungen, denen sich die haitianische Regierung gegenüber sieht, sind zweifelsohne extrem. Dennoch sind die eingeleiteten Maßnahmen für den Schutz von Frauen und Mädchen als unzureichend einzustufen.

Haiti hat regionale und internationale Menschenrechtsinstrumente zum Schutz von Frauen unterzeichnet und seit 2005 einige nationale Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht, die Rechte von Frauen besser zu schützen. Die Maßnahmen wurden jedoch größtenteils nicht vollständig umgesetzt.

In den Camps erhöhen eine Reihe von Faktoren das Risiko geschlechterbasierter Gewalt, insbesondere der Mangel an Sicherheit und Polizeischutz und die zumeist unangemessene Reaktion der Polizei auf Vergewaltigungen. Hinzu kommen die unzureichende Beleuchtung in der Nacht, unsichere und inadäquate Unterkünfte, der Mangel an angemessenen Hygiene- und Sanitäreinrichtungen, der Zusammenbruch sozialer Netzwerke sowie staatlicher Institutionen, die Überfüllung der Camps, und die mangelnden Möglichkeiten, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Sexuelle und geschlechterbasierte Gewalt zur Anzeige zu bringen bleibt auch heute in Haiti hoch problematisch. Opfern und ihren Angehörigen stehen meist zu wenige Informationen zur Verfügung, wie sexuelle Gewalt bei der Polizei und der Justiz angezeigt werden kann. Auch der Mangel an Schutzmechanismen für Frauen und Mädchen entmutigt diese meist, die Gewalt anzuzeigen. Das Versäumnis des Staates, effektiv und umfassend gegen sexuelle Gewalt vorzugehen, trägt zu der vorherrschenden Straflosigkeit im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen an Frauen bei.

Die wenigen Präventions- und Reaktionsmechanismen, die vor dem Erdbeben existierten, wurden durch die Zerstörung von Polizeistationen und Gerichtsgebäuden weiter geschwächt.

Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsdiensten ist für Opfer sexueller Gewalt, ebenso wie für Frauen und Mädchen im Allgemeinen, ungenügend. Die Betroffenen müssen Angst, Diskriminierung und finanzielle Hürden überwinden, um Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten. Der Verlust von Lebensgrundlagen und Einkommensquellen hat die Armut von Frauen weiterhin verfestigt und zu einem Anstieg der Anzahl von Frauen und Mädchen geführt, die sich prostituieren, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Diese Frauen sind einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, Opfer von Gewalt zu werden.

Mädchen sind in Haiti nicht nur aufgrund ihres Geschlechts in Gefahr, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass die Rechte von Kindern nur unzureichend geschützt werden.

Haiti hat 1997 die UN Kinderrechtskonvention ratifiziert und die Behörden haben die Einführung eines speziellen Gesetzbuches (Children’s Code) vorgeschlagen, um die Konvention umzusetzen. Dieses Gesetzbuch wurde jedoch bis heute nicht vom Parlament verabschiedet. Das haitianische Recht bietet deshalb gegenwärtig kein angemessenes Regelungswerk zu den Rechten von Kindern. 2003 trat ein Gesetz zum Verbot und zur Abschaffung jeglicher Arten von Missbrauch, Gewalt und unmenschlicher Behandlung von Kindern in Kraft. Das Gesetz besagt jedoch auch, dass Kinder im Rahmen einer Beziehung der „Unterstützung und Solidarität“ in Pflegefamilien übergeben werden können, ohne die Rahmenbedingungen einer solchen Beziehung klar zu definieren, und ohne ein Strafmaß für die Verletzung der Regelungen festzulegen. Die vage Formulierung des Gesetzes und fehlende Sanktionsmechanismen tragen dazu bei, dass die Praxis, Kinder als häusliche Bedienstete (sogenannte restavèk) zu beschäftigen, nach wie vor weit verbreitet ist.

Viele dieser Kinder leben unter sklavenähnlichen Bedingungen, sind einem hohen Risiko von Missbrauch ausgesetzt und meist vom Zugang zu Bildung ausgeschlossen. Seit dem Erdbeben, das Familien auseinandergerissen und Schulen zerstört hat, sind tausende Kinder ohne Schutz. In der Folge sind sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer von Menschenhandel und Missbrauch durch kriminelle Netzwerke zu werden.

STRAFLOSIGKEIT UND GESETZESVOLLZUG

Als der ehemalige Staatspräsident Jean-Claude Duvalier im Januar 2011 nach Haiti zurückkehrte, scheiterte der haitianische Staat an der Aufgabe, ihn für während seiner Amtszeit begangene Menschenrechtsverletzungen vor Gericht zu stellen. In dieser Angelegenheit wurden abermals die Defizite des haitianischen Polizei- und Justizsystems deutlich.

Amnesty International hat für den Zeitraum der Amtszeit von Jean-Claude Duvalier (1971-1986) systematische Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, von denen einige Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.

Im Zuge der nach seiner Rückkehr eingeleiteten Ermittlungen gegen ihn hat Amnesty International diese Dokumente veröffentlicht und den haitianischen Behörden zur Verfügung gestellt. Die gerichtliche Entscheidung im Januar 2012, Duvalier nicht für mutmaßliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit – inklusive Folter, Verschwindenlassen, Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren und extralegale Hinrichtungen – vor Gericht zu stellen, sondern lediglich wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder, ist eine Missachtung der Rechte der Opfer und ihrer Angehörigen und könnte die Straflosigkeit im Land noch verstärken.

Eine Justizreform ist dringend notwendig und essentiell für eine Stärkung des Rechtsstaats in Haiti.

Jedoch wurden Schlüsselinstitutionen, die für die Umsetzung einer solchen Reform unerlässlich sind, noch immer nicht geschaffen. So ist der Posten des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes seit 2004 vakant. Dieser ist jedoch unerlässlich, um eine Reihe von Reformen des Justizsystems voran zu bringen. Zudem sitzt der Präsident dem Obersten Justizrat vor, der unter anderem für die Überprüfung von Richtern zuständig ist.

Der Staat hat es außerdem versäumt, seine Sicherheitsdienste angemessen auszubilden, insbesondere bezüglich der Vermeidung unverhältnismäßiger Gewalt. Ebenso fehlt es in diesem Bereich an angemessenen Kontrollmechanismen.

Präventive und die gesetzliche Höchstdauer weit überschreitende Untersuchungshaft bleibt in Haiti eher die Regel als die Ausnahme. Insassen werden willkürlich festgenommen und für lange Zeiträume festgehalten, ohne dass sie die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung anfechten können. Obwohl das haitianische Gesetzbuch die Möglichkeit einer Entlassung gegen Kaution bis zum Gerichtsverfahren vorsieht, wird diese Maßnahme nur selten angewendet. Nach Angaben des Nationalen Netzwerkes zur Verteidigung der Menschenrechte wurden weniger als 30% der Inhaftierten vor Gericht gestellt und offiziell verurteilt. Berichten von nationalen Menschenrechtsorganisationen und der MINUSTAH zufolge sind die Gefängnisse außerdem oft stark überfüllt. Amnesty International ist besorgt darüber, dass die Bedingungen in einigen Gefängnissen einer grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gleichkommen.

Jenny Schöberlein, Sprecherin Ländergruppe Haiti, Amnesty International Deutschland

Eine pdf-Version des Länderkurzberichtes findet Ihr im Downloadbereich.

22. Juni 2019