Menschenrechte müssen im Zentrum der Hilfsbemühungen und des Wiederaufbaus in Haiti stehen

ÖFFENTLICHE STELLUNGNAHME

Zwei Wochen nachdem ein Erdbeben einen großen Verlust von Menschenleben und materielle Zerstörung über Teile von Haiti brachte, bietet die internationale Gemeinschaft noch immer große Anstrengungen auf, um dringend nötige Unterstützung und humanitäre Hilfe zur haitianischen Bevölkerung zu bringen.

Der UN Sicherheitsrat hielt eine spezielle Sitzung zur humanitären Krise nach dem Erdbeben in Haiti ab und heute hat die kanadische Regierung die erste internationale Konferenz abgehalten, um die ersten Ideen zum Wiederaufbau darzulegen. Weitere Treffen werden erwartet, einschließlich durch den UN Menschenrechtsrat und andere internationale Institutionen.

Die bevorstehenden Herausforderungen sind mannigfaltig. Amnesty International nimmt die Gelegenheit wahr, um Bedenken angesichts der humanitären Krise zu äußern, die sich in Haiti entfaltet und betont, dass der Schutz der Menschenrechte entscheidend für effektive Hilfe und nachhaltigen Wiederaufbau ist. Bemühungen und Maßnahmen, die Menschenrechtsfragen angehen, müssen während der Hilfsphase beginnen und im Zentrum des Wiederaufbaus stehen.

Menschenrechte sind in Krisen- und Notsituationen am meisten in Gefahr. Deshalb ist es entscheidend, dass alle Akteure die angemessenen Maßnahmen ergreifen, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern und um den Respekt und die Erfüllung von Menschenrechten, wie sie in den internationalen Menschenrechtsinstrumentarien dargelegt sind, sicherzustellen.

Die Situation vor Ort ist der Art, dass sich Haitianer nicht nur mit einer der schlimmsten humanitären Krisen, der ein Land jemals gegenüber stand, konfrontiert sehen, sondern dass sie auch vor einer Menschenrechtskrise stehen. Der Verlust zehntausender Menschenleben kann nicht nur der Kraft der Natur zugeschrieben werden. Die endemische Armut, der sich ein Großteil der haitianischen Bevölkerung ausgesetzt sieht hat nicht unerheblich zu dem Ausmaß der Verwüstung beigetragen.

Bei der Förderung und Unterstützung des Wiederaufbaus in Haiti ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft nicht die Bedingungen wiederherstellt, die Menschen dem Risiko von Menschenrechtsverletzungen aussetzen und Ungleichheit und Armut aufrechterhalten. Nothilfe- und Wiederaufbaubemühungen in Haiti müssen auf dem Respekt und der Förderung von Menschenrechten aufbauen. Die Behörden Haitis und die internationale Gebergemeinschaft müssen sicherstellen, dass die notwendige internationale Zusammenarbeit und Hilfe für Haiti Menschenrechtsstandards gerecht wird. Als solche müssen sie auf eine Weise geleistet werden, die Nicht-Diskriminierung gewährleistet; die die zur Verfügung Stellung von einem Mindestmaß an Nahrung, Wasser, Hygiene, Bildung, Gesundheit und Behausung für Alle zur Priorität macht; und die sich auf die Bedürftigsten konzentriert. Außerdem müssen die haitianischen Behörden und Geberländer mit angemessener Sorgfalt sicherstellen, dass Not- und Entwicklungshilfe nicht zu Menschenrechtsverletzungen führen oder beitragen und dass es im Zuge der Nothilfe- und Entwicklungsbemühungen effektive Mechanismen für die wirkliche Partizipation aller betroffener Gemeinden, einschließlich der am stärksten marginalisierten, gibt.

Während der Verteilung von Hilfsleistungen und den frühen Stadien der Wiederaufbauphase, erhebt Amnesty International die folgenden Anliegen und ruft alle Akteure dazu auf, sie ohne Verzögerung und umfassend zu thematisieren:

Schutz der Kinder vor Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel:

Kinder gehören zu den verletzlichsten Mitgliedern einer Gesellschaft und während einer humanitären Krise erhöht sich ihre Anfälligkeit, Opfer von Gewalt, Missbrauch, der Trennung von der Familie oder einer Behinderung zu werden nochmals erheblich. Die Trennung von der Familie und die Zerstörung von Schulen und Gemeinden nahm tausenden Kindern ihre schützende Umgebung. Ohne diesen Schutz können sie leichte Beute für Netzwerke des Menschenhandels und der Ausbeutung werden, die bereits vor dem Erdbeben in Haiti aktiv waren.

Von ihren Eltern getrennte Kinder könnten fälschlicherweise als Waisen eingestuft werden, die der Gefahr ausgesetzt sind, inoffizieller Adoption zum Opfer zu fallen. Der Den Haager Konvention zu internationalen Adoptionen zufolge, soll internationale Adoption das letzte Mittel sein, nachdem innerstaatliche Alternativen ausgeschöpft sind und nachdem kompetente Behörden festgestellt haben, dass keine Eltern oder Pflegefamilien sich um die Kinder kümmern können. Dieses Risiko bestand bereits vor der Katastrophe, aber es könnte nun dadurch verstärkt werden, dass Familien aus anderen Ländern auf das Leid haitianischer Waisenkinder mit dem Wunsch reagieren, sie zu adoptieren. In vielen Fällen können die unzulänglichen Kapazitäten der haitianischen Behörden festzustellen, ob eine Adoption angebracht ist, und sicherzustellen ob die Rechte des Kindes respektiert werden, dazu führen, dass illegale Adoptionsnetzwerke blühen.

Die haitianischen Behörden müssen, mit der Unterstützung der MINUSTAH, sicherstellen, dass angemessene Schutzmechanismen greifen um zu verhindern, dass Kinder ohne die Erfüllung formaler rechtlicher Standards für internationale Adoptionen außer Landes gebracht werden. Die Familienzusammenführung, ebenso wie die Schaffung sicherer Orte, für von ihren Familien getrennte Kinder, muss für die internationale Gemeinschaft, die haitianischen Behörden und internationale Hilfsorganisationen Priorität haben.

Die Rechte von Binnenflüchtlingen schützen:

Hunderttausende von Menschen sind obdachlos und können in den Trümmern ihr Leben nicht ohne schwere Sicherheitsrisiken und die Gefährdung ihres Wohlseins wieder aufnehmen. Tausende sind bereits auf der Flucht aus den zerstörten Gebieten.

Die haitianische Regierung, einschließlich der lokalen Behörden, und internationale humanitäre- und Entwicklungsorganisationen müssen die Befolgung der Guiding Principles on Internal Displacement beachten, wenn Sicherheitsbedürfnisse und humanitäre Bedürfnisse der Binnenflüchtlinge in Haiti thematisiert werden.

In einem Land, in dem Nahrungsmittelunsicherheit vor dem Erdbeben geschätzte 1,8 Millionen Haitianer (Dezember 2009) betraf und es 40% der Bevölkerung an Zugang zu Trinkwasser mangelte, erhöht die große Anzahl an Binnenflüchtlingen die Gefahr, dass sich die humanitäre Krise auf das ganze Land ausweitet.

Amnesty International hebt die Wichtigkeit hervor, die Rechte von Binnenflüchtlingen, sowohl innerhalb als auch außerhalb von Lagern, zu schützen und dass diese dabei unterstützt werden müssen, freiwillige und informierte Entscheidungen über ihre Zukunft zu treffen. Den Standards der Guiding Principles on Internal Displacement zufolge, muss jede Umsiedlung von Binnenflüchtlingen aus Zeltlagern oder Krisengebieten freiwillig erfolgen, außer die Sicherheit und Gesundheit der Betroffenen erfordert eine Evakuierung. Sie dürfen in keiner Weise gezwungen werden, auch nicht durch die Aussetzung von Hilfe. Das Recht von Binnenflüchtlingen freiwillig, in Sicherheit und mit Würde zu ihren früheren Häusern oder Ländereien zurück zu kehren, soll respektiert werden und die Behörden sollen ihnen dabei Hilfe leisten entweder zurück zu kehren, oder sich in einem anderen Teil des Landes niederzulassen.

Frauen und Mädchen vor geschlechterbasierter Gewalt, inklusive sexueller Gewalt schützen:

Während humanitärer Krisen und in der Folge von Krisensituationen, sind Frauen und Mädchen oft einem besonderen Risiko der sexuellen Gewalt, der Ausbeutung durch Menschenhändler und dem reduzierten Zugang zu sexueller, reproduktiver und Müttergesundheit ausgesetzt.

Ihre Benachteiligung beim Zugang zu Hilfe wurde, inner- und außerhalb von Camps, bereits zuvor in Ländern dokumentiert, wo sich humanitäre Krisen entwickelten und es in ihrer Folge eine große Zahl von Binnenflüchtlingen gab.

Alle Akteure, die in der Nothilfe und den späteren Wiederaufbaubemühungen aktiv sind, müssen die Prävention von und die Reaktion auf alle Formen geschlechterbasierter Gewalt, insbesondere sexuelle Gewalt, in ihre Programme integrieren. UN Organisationen und andere Akteure haben Richtlinien für Interventionen bei geschlechterbasierter Gewalt in humanitären Notfällen entwickelt, die auf die Prävention von und das Reagieren auf sexuelle Gewalt fokussieren. Die Richtlinien bieten einen kohärenten und partizipativen Ansatz, um geschlechterbasierte Gewalt zu verhindern, oder auf sie zu reagieren, und legen die Bandbreite von Hilfen fest, die dem Bedarf von Opfern sexueller Gewalt entsprechen.

Amnesty International ruft alle Akteure, die in die Hilfs- und Wiederaufbaubemühungen in Haiti involviert sind dazu auf, diese Richtlinien als notwendigen Rahmen für ihre Arbeit zu nutzen.

Sicherheit und Strafverfolgung:

Das Erdbeben hat die Fähigkeit der haitianischen Behörden Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit zu gewährleisten weiter beschränkt.

Vorkommnisse von Gewalt wurden berichtet, beschränken sich aber momentan auf einige Gegenden von Port-au-Prince, hauptsächlich die Altstadt. Die Schaffung eines funktionierenden Justizsystems, um unverzüglich auf die gravierendsten Verbrechen zu reagieren, sollte eine höchste Priorität der haitianischen Behörden und der internationalen Geber sein.

Es gibt wachsende Besorgnis, dass Gefängnisinsassen, die für Gewaltverbrechen einsaßen und aus dem Nationalgefängnis in Port-au-Prince geflohen sind, versuchen, wieder Zugang zu und Kontrolle über die ärmsten und verletzlichsten Gemeinden zu bekommen. Als Antwort darauf haben sich Gemeindemitglieder selbst organisiert, um Banden daran zu hindern Gemeinden unter ihre Kontrolle zu bringen. Amnesty International befürchtet, dass dies Gemeindemitglieder in die Gefahr einer Gewaltspirale bringen könnte. Die Organisation erreichten Berichte von Lynchmorden und Selbstjustiz durch Mobs, während derer angebliche Plünderer getötet wurden.

Die haitianische Nationalpolizei, mit der Unterstützung der MINUSTAH, muss Sicherheit gewährleisten, besonders in Gegenden, in denen Bandengewalt in der Vergangenheit weit verbreitet war. Dies ist von höchster Wichtigkeit um sicherzustellen, dass Nothilfe nicht durch Drohungen gegen die Bevölkerung und Nothelfer behindert wird. Diejenigen, die in Lynchmorde und andere Formen von Gewalt involviert waren, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

Die haitianischen Behörden müssen sofort den Bau einer provisorischen Haftanstalt veranlassen, da das Hauptgefängnis des Landes zerstört ist und andere Gefängnisse des Landes überfüllt sind. Sie müssen außerdem sicherstellen, dass alle Gefangenen Zugang zu humanitärer Hilfe haben und menschenwürdig behandelt werden. Es sind Berichte aufgetaucht, nach denen haitianische Strafvollzugsbeamte tödliche Gewalt angewendet haben, bei der angebliche Plünderer erschossen wurden.

Amnesty International ruft die haitianischen Behörden und internationalen Truppen im Land dazu auf, die strikte Überwachung und Einhaltung der UN Basic Principles for the Use of Force and Firearms by Law Enforcement Officials sicherzustellen, die festschreiben, dass die Polizei Schusswaffen nur in Selbstverteidigung oder angesichts der unmittelbaren Gefahr von Tod oder schwerer Verletzung anwenden darf. Unabhängige, objektive und gründliche Untersuchungen müssen in Gang gesetzt werden, um Berichte über gesetzeswidrige Tötungen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und verdächtige Täter müssen vor Gericht gebracht werden.

Rechenschaftspflicht internationaler Truppen:

Internationale Truppen sind auf Bitten der haitianischen Regierung im Land angekommen, um Sicherheit bei der Verteilung humanitärer Hilfe zu gewährleisten. Mehr als 10 000 US-Truppen, 150 Personen Militärpersonal aus der Dominikanischen Republik und 800 kanadische Soldaten sind in Haiti stationiert worden. Mehr Truppen könnten in den nächsten Wochen entsandt werden, auch aus anderen Ländern.

Fragen der Haftung und Verantwortung der großen Zahl an Militär- und Polizeipersonal müssen von Anfang an geklärt werden. Die Bedingungen der Stationierung und besonders die Einsatzregeln (rules of engagement) müssen den internationalen Menschenrechtsregeln entsprechen und es muss effektive Mechanismen geben, dass diese von allen Mitgliedern der internationalen Truppen zu allen Zeiten respektiert werden.

Die Erfahrung von anderen friedenserhaltenden Einsätzen hat gezeigt, dass das Belassen der Rechenschaftspflicht in dem Ermessen der truppenstellenden Länder, zu Straflosigkeit bei schweren Menschenrechtsverletzungen führt.

Erlassung der haitianischen Auslandsschulden:

2009 haben die internationalen Finanzinstitutionen und andere Gläubiger 1,2 Mrd. US$ der haitianischen Auslandsschulden erlassen. Trotzdem schuldet Haiti seinen Gläubigern noch immer hunderte Millionen Dollar. Unter den gegenwärtigen Bedingungen bedeutet die Rückzahlung dieser Schulden für Haitis Bevölkerung und die nationale Wirtschaft eine unzumutbare Last.

Amnesty International ruft alle internationalen Finanzinstitutionen und andere Kreditgeber dazu auf, alle nötigen Schritte zu unternehmen, um Haiti seine Schulden zu erlassen. Denn das Bestehen auf einer Rückzahlung würde die Fähigkeit Haitis behindern, seinen Menschenrechtsverpflichtungen nachzukommen, einschließlich hinsichtlich der Erfüllung eines minimalen Levels an ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechten.

Der Schuldenerlass sollte nicht von Bedingungen begleitet werden, die eine negative Auswirkung auf die Menschenrechte haben würden. Alle finanziellen Mittel, die Haiti in den kommenden Jahren zur Verfügung gestellt werden, müssen in Wiederaufbauprogramme fließen, die Haitis Gemeinwohl, den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen sowie gerechte und nachhaltige Entwicklung gewährleisten.